Räume brauchen Flügel
Doris Fratton denkt...
...Schulräume so konsequent weiter, dass sie nach dem Lehrer und dem Kind zum dritten Pädagogen werden sollen. Ihre Ideen sind anders, verblüffend, unbeirrter.
Müsste man das Universum der Doris Fratton in ihrem Atelier «Fratton Raum» an der Geltenwilenstrasse in St.Gallen in einem einzigen verdichteten Wort wiedergeben, so wäre dies der Begriff Präzision. Alles an ihr wirkt aufgeräumt, die Art, wie sie sich bewegt, die Gedanken, die sie zu ebenso klugen wie exakten Sätzen verdichtet, und natürlich auch ihr gestalterisches Labor, das sie in den letzten Tagen für die anstehende Ausstellung bereitgemacht hat.
Es dauert einen Moment, um sich an die relative Leere des Raums zu gewöhnen. «Räume brauchen Wurzeln und Flügel», sagt die 59-Jährige und umschreibt damit ihre architektonische Grundhaltung poetisch. Wer ihr zuhört, merkt nach wenigen Minuten, dass das Obergeschoss von «Fratton Raum» in ihrem Verständnis ein Ort der Flügel sein muss – ein Raum also, in dem Gedanken Reissaus nehmen. Ein Werkraum, der im Zusammenspiel mit der Malerin Sonja Hugentobler jeweils an einem Tag der Woche unter dem Arbeitstitel «Das Raumlabor» Experimentierraum, Inspirationsraum und Erfindungsort für weiterführende innenarchitektonische Projekte sein soll.
Die Wurzeln übrigens befinden sich einen Stock tiefer, in einem gewölbeartigen Keller, in dem die beiden Frauen Exponate der anstehenden Ausstellung raffiniert inszeniert haben.
Das gängige Aufbrechen
Es braucht einiges Abstraktionsvermögen, um sich die Dialektik der Wurzeln und Flügel architektonisch umgesetzt in einer Schule vorstellen zu können. Sie erinnert sich:
Viele von uns verbinden mit Schule jene Räume, in denen wir selber unterrichtet wurden. Davon musste auch ich mich erst einmal lösen.
Vor mittlerweile mehr als einem halben Leben war Doris Fratton Primarlehrerin, bildete sich an der Kunstgewerbeschule Zürich weiter zur Werk- und Zeichnungslehrerin und wirkte später als Schulleiterin des Kindergärtnerinnenseminars in Amriswil. «Dort stand die Umgestaltung der Schulanlage an. Statt zurückzuschrecken, merkte ich, dass ich in dieser Aufgabe aufging und eine unglaubliche Befriedigung empfand.»
Inzwischen hat die erfolgreiche Innenarchitektin, die in Rickenbach bei Wil wohnt, ihre eigene Firma gegründet und etwa 30 Schulen gestaltet. Erst waren es die SBW-Schulen ihres Mannes, des Schulreformers Peter Fratton, später kamen diverse Aufträge in Deutschland hinzu. Ihr letztes Projekt war der Umbau einer Kirche in die Neue Stadtschule St.Gallen. Eindrucksvoll auch ihr Gestaltungskonzept für die Flauderei in Appenzell. Weitere Projekte wie Restaurants, Privat- und Geschäftsräume über die Schweiz hinaus tragen ihre Handschrift.
Zu sehen sind die Umbauarbeiten der «Kirche am Rosenberg», die sich in die Sekundarstufe der Neuen Stadtschulen verwandelt.
Ein Ermöglicher –
kein Verhinderer
Wer Doris Frattons Arbeiten kennt, findet in ihren Räumen eine lebendige, pulsierend-abenteuerliche Gestaltungslust, die den steten Widerstreit mit den Vorgaben des Vorhandenen und den Wünschen der Auftraggeber immer wieder spielerisch meistert. «Für mich müssen Schulen ein Zuhause sein. Sie müssen mehr als nur ein Ort für den Geist – den Intellekt – sein. Schulräume sollen Ermöglicher und nicht Verhinderer sein. Im Idealfall sind sie nach der Lehrperson und dem Kind selbst ein dritter Pädagoge», erklärt die Innenarchitektin ihre pädagogischen Überlegungen. Dass sie mit ihren Ideen auch immer wider gegen starre Haltungen anrennt, ist ihr bewusst. «Gestalten in Schulen ist für mich so etwas wie ein Tanz in Fesseln», sagt sie und lacht.
Es passt zu Frattons analytischem Geist, dass sie parallel zu ihrer architektonischen Arbeit in Schulen neun gestalterische Axiome dazu entwickelt und visuell als Kartensammlung festgehalten hat. Dabei findet sich Erwartbares wie die Forderung, dass Räume Strukturen brauchen. Aber natürlich auch Verblüffendes, wie etwa der Anspruch, dass auch Schulräume verletzbar sein müssen. «Oft geht in Schulen die reine Funktionalität vor, und es werden harte Materialien verwendet, die geradezu einladen, sie zu zerkratzen oder zu beschädigen.»
Sie sei noch immer ins Gelingen verliebt, sagt sie. So präzise, wie man das von ihr erwartet, aber mit einer Kraft, die einlädt, ihr Werk oder zumindest eine ihrer Schulen entdecken zu wollen.
Im Jahr 2014 bekam die «Kirche am Rosenberg» eine neue Funktion und dient als Lernort der Oberstufe der Neuen Stadtschulen St.Gallen.